Viele Probleme von Unternehmen sind offensichtlich. Manche sind fachlicher Natur, und andere sind rein technisch. Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von Hindernissen, die weniger offensichtlich sind oder gar als normal und völlig selbstverständlich angesehen werden. Die folgende Schimpftirade (neudeutsch auch Rant), beleuchtet einige dieser Themen aus der Perspektive von Consultants, die sich weigern zu akzeptieren, dass diese Probleme unumstößlich sind.
Charles Darwins Theorie der biologischen Evolution, nach der Spezies von Organismen durch die natürliche Selektion von kleinen Variationen entstehen, sich entwickeln und konkurrierend versuchen zu überleben und sich fortzupflanzen, lässt sich analog auf Unternehmen anwenden, die versuchen, sich in Märkten trotz wachsender Globalisierung zu behaupten. Diese Analogie, auch Economic Darwinism genannt, ist die schmerzhafte Realität, in der sich nicht nur Startups des 21. Jahrhunderts wiederfinden, sondern vor allem auch Konzerne, die den einen oder auch den anderen Weltkrieg mit- und überlebt haben.
Gerade solche Konzerne haben gelernt, sich Kriegskassen, nicht für einen Krieg der Nationen, sondern für den Krieg in den Märkten, anzusparen. Aber was ist, wenn das nächste Airbnb, Uber oder Spotify einen Krieg erklärt, den man mit Geld und Ausdauer nicht gewinnen kann, weil ihre Ideen so innovativ sind, dass sie den gesamten Markt neu definieren oder obsolet machen?
Die übliche Antwort auf solche Ängste ist eine vermeintlich radikale Veränderung des Unternehmens. Es werden Consultants eingekauft, die Prozesse verbessern oder sogar eine agile Transformation versprechen. Es werden Verantwortlichkeiten neu sortiert, Strukturen neu formiert, und ab jetzt wird alles anders. Viel zu oft ist das nur der letzte große Aufschrei eines Konzerns, der trotz dieser Bemühungen in die Annalen der vergessenen Konzerne eingeht. Dieser Artikel soll die Bemühungen von Consultants nicht schmälern, sondern Aufmerksamkeit dafür erzeugen, dass es in vielen Unternehmen – so auch in deinem – tabuisierte Themen gibt, deren Lösung sich ein Unternehmen nicht einfach einkaufen kann.
(Fr)Agilität
Aber langsam: Warum scheitern radikale Veränderungen eigentlich, obwohl Consultants selbstbewusst eine bessere Zukunft versprechen? Soll agile Software-Entwicklung nicht sogar 300 Prozent der Produktivität möglich machen? Vielleicht hast du eine agile Transformation in deinem Unternehmen miterlebt, aber ist der versprochene Erfolg wirklich eingetreten?
Agilität scheitert häufig schon am Verständnis. Agilität ist eben nicht das Buzzword für die Ansammlung von Methoden, wie zum Beispiel kurzen Iterationen in der Produktentwicklung oder Inspect and Adapt, die in Summe alles besser machen. Agilität ist Management von Komplexität und wird letztendlich dann erreicht, wenn die Lead Time – also die Zeit für eine Änderung an einem Produkt von der Idee bis zur Auslieferung – maximal kurz ist. Agilität bei der Produktentwicklung ist dennoch nicht ausreichend, denn eine Pivotierung von Geschäftsfeldern in kurzer Zeit wird dadurch nicht ermöglicht. Business Agility – also Agilität auf Marktebene – ermöglicht erst das Survival of the Fittest.
Letztendlich ist es keine radikale Veränderung, wenn Agilität in die Produktentwicklung eingeführt wird, denn Rahmenbedingungen, Unternehmenskultur, (mittleres) Management, Silos, Budget, Ziele, Betriebsrat, Boni und andere Incentives ändern sich dadurch nicht.
Ab hier wird es unangenehm, denn die Wahrheit ist, dass protektionistische, teils auch machiavellistische Strukturen und Fehlervermeidungsstrategien wahre Business Agility verhindern.
Survivorship Bias
Konzerne existieren häufig schon seit Jahrzehnten, und die gesammelte Weisheit des Unternehmens hat sich bewährt. Jeder Fehler, der begangen wurde, konnte durch die Kriegskasse aufgefangen werden. Kommunikationsregeln, Prozesse, Überwachungs- und Bewilligungsgremien und andere Fehlervermeidungsstrategien wurden über die Jahre aufgebaut. Jeder Fehler sorgte in der Vergangenheit für neue Verbote, Regeln und Grenzen. Manche wurden explizit als solche benannt, und andere sind Teil der Kultur. Diese Struktur von Verboten und Geboten hat das Unternehmen also vor seinem Untergang bewahrt, die Kassen gefüllt und den Wert der Marke durch die Decke gehen lassen.
Das ist eine schöne Geschichte, aber die Wahrheit ist nicht so einfach. Andere Unternehmen sind gescheitert, trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Kultur. Nicht die Fähigkeit aus Fehlern Sicherheitsmaßnahmen abzuleiten hat diese Unternehmen also gerettet. Den Markt interessiert es reichlich wenig, wie oft Fehler in einem Unternehmen verhindert werden konnten.
Auch wenn wir den Blick zu häufig nur auf Startups werfen und uns von ihrem unerwarteten Erfolg blenden lassen, müssen wir uns auch hier bewusst machen, dass wir dem Survivorship Bias unterliegen, denn nicht jedes Startup ist erfolgreich – im Gegenteil: Die meisten Existenzgründer scheitern mit ihren Unternehmen. Das sind allerdings keine interessanten Erfolgsgeschichten, wie wir sie aus dem Silicon Valley gewohnt sind.
Nur eine Frage der Zeit
Richten wir nun unseren Blick nach vorn: Dein Unternehmen hat sich ja nicht selbst zerstört. Noch nicht. Das nächste Startup könnte dein Geschäftsfeld allerdings innerhalb von Monaten massiv verändern.
Das muss nicht das Ende bedeuten, aber die Gefahr besteht, und gerade die nicht vorhandene Weisheit dieser Startups, also all die Fehlervermeidungsstrategien, die diese Startups nicht haben, könnten einen Weg aufzeigen, der das Ende für dein Unternehmen bedeuten würde. Es ist weniger die Frage, ob das passiert, sondern wann.
Culture eats Strategy for Breakfast
Dieser Spruch ist nicht besonders neu, aber er wird derzeit überall dort, wo über Change Management gesprochen wird, immer wieder in den Raum geworfen. Dein Unternehmen hat eine neue Strategie. Du hast das Budget, um etwas neues zu wagen. Dein Research & Development Team hat ein neues Ziel: Innovation und Disruption des Marktes. Wenn ein Startup einen Markt umkrempeln kann, dann kann es ein Konzern doch erst recht, oder?
Dieses Team beginnt also mit Experimenten, neuen Ideen, es spielt mit dem Gedanken in den Geschäftsfeldern der Konkurrenz zu wildern. Das sieht für eine Weile gut aus, aber dann soll das neue innovative Produkt endlich in den Markt geworfen werden. Nur noch die Anbindung an das alte Abrechnungssystem, das speziell für die Eigenarten dieses Unternehmens entwickelt wurde, fehlt.
Also wird der Experte für das Abrechnungssystem eingeladen, der einen Vortrag über die vielen Funktionen und Spezialfälle, die das System abdeckt, hält. Fantastisch, es gibt sogar schon eine Schnittstelle. Wochen später gibt es noch immer keine Anbindung, denn es stellte sich heraus, dass diese Schnittstelle eine Tabelle in einer Oracle-Datenbank ist, die nur in der Nacht zwischen 3 Uhr und 4 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit auf Änderungen geprüft wird.
Die Abrechnung muss dem Kunden aber sofort in dem neuen System in der Cloud – in jeder Zeitzone – angezeigt werden. Das ist zu langsam. Eine Zwischenschicht soll das Ganze nun beschleunigen, haben die Architekten aus der IT-Abteilung zumindest empfohlen, und dein Innovationsteam stimmt zu.
Ein neues Team wird gebildet. Nach weiteren Wochen, in denen über die Architektur der Middleware, die zwischen dem neuen Produkt und den Legacy-Systemen vermitteln soll, gesprochen wurde, wird festgestellt, dass die Datenbank sensitive Kundendaten enthält, die auf Grund von Datenschutzregeln der IT-Abteilung nicht an Cloud-Lösungen angebunden werden darf. Diese Regeln sind natürlich unumstößlich, es sei denn das Datenschutzgremium ändere die Regeln, aber dann müssten auch alle bestehenden Anwendungen erneut geprüft werden, da sie sich im selben Netzwerk befinden. Einige Eskalationsgespräche später stellst du die entscheidende Frage: „Wieso ist unser neues Produkt noch nicht auf dem Markt?” Weil deine Strategie von der Unternehmenskultur gefrühstückt wurde.
Die Dyade des Stillstands
Um das Jahr 1900 herum wurden erstmalig Arbeiterausschüsse gesetzlich verankert, aber zunächst nur für den Bergbau. Dreißig Jahre später haben sich diese Interessenvertreter der Arbeitnehmer zu betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsorganen, also Betriebsräten, mit umfassenden Mitbestimmungsrechten für alle Industriezweige weiterentwickelt. Der Betriebsrat hat unter anderem die Aufgabe, den Arbeitnehmern Gehör zu verschaffen und ihre Interessen zu vertreten.
Diese sozialliberale Errungenschaft ist ein wichtiger Bestandteil der Deutschen Wirtschaft, und Betriebsräte haben vielen Arbeitnehmern den Arbeitsplatz gerettet oder das Arbeitsumfeld verbessert. Leider gibt es auch eine Kehrseite.
Umstrukturierungen von Unternehmen, egal ob sinnvoll oder nicht, müssen mit dem Betriebsrat erarbeitet und von ihm genehmigt werden. Dabei werden Kompromisse eingegangen. Arbeitsplätze werden erhalten, obwohl sie nicht mehr in die neue Unternehmensstrategie passen. Wir wollen starke, selbstorganisierte, autonome Teams, also wollen wir die Verantwortungen neu verteilen. Aber Verantwortung heißt häufig auch irgendeine Form von Haftung oder Rechenschaft. Eigenschaften, die nur Vertreter des mittleren Managements haben dürfen. Immerhin bekommen sie dafür Gratifikationen und Dienstwagen. Aus Gründen der Gerechtigkeit wird der Betriebsrat also keine Verantwortung ohne entsprechenden Ausgleich zulassen. Selbst wenn der finanzielle Ausgleich nicht das Problem ist, folgen direkt die nächste Fallstricke: Das Entwicklungsteam soll nun Verantwortung tragen, die zuvor vom mittleren Management getragen wurde.
Letztendlich ist die breite Zwischenschicht unterhalb der Unternehmensführung und oberhalb der Operative dafür zuständig, Kontroll- und Steuerungsmechanismen zu verwenden, um das Unternehmensrisiko zu senken. Sie sorgen mit ihren Rahmenbedingungen dafür, dass die Abteilungen und Teams keine Fehler machen. Sie tragen die Verantwortung. Wollte man nun diese Verantwortung womöglich auf die unteren Ebenen verteilen, was wäre dann noch die Daseinsberechtigung für das mittlere Management?
Es ist daher weder im Interesse des Betriebsrats noch des mittleren Managements, wenn es um Veränderungen von Aufgaben, Verantwortungen oder der Hierarchie geht.
Unscheinbare Zielvereinbarungen
Incentives wie Boni, Prämien, Unternehmensbeteiligungen, Dienstwagen oder Sonderurlaub sind sowohl beim mittleren als auch beim oberen Management sehr beliebt. In der Regel gibt es einen Incentive-Plan, der diese an die Erreichung von persönlichen Zielen knüpft. Diese Zielvereinbarungen unterliegen normalerweise der Geheimhaltung, da sie einen Teil der Gehälter ausmachen. Die daran geknüpften Ziele werden daher auch häufig nicht offengelegt. Die Implikation ist, dass unterschiedliche Äste des Hierarchiebaums verschiedene Ziele verfolgen. Ein Manager wird alles machen, um sein Ziel erreichen, selbst wenn er dabei das Unternehmen zerstört. Viele Manager, die unterschiedliche Ziele haben, die sich womöglich widersprechen oder zumindest die Priorität auf unterschiedliche Themen legen, geben diesem Problem eine weitere Dimension. Selbst wenn es ein Oversight Committee gibt, das die Zielvereinbarungen miteinander abgleicht, wird die Komplexität der unscheinbaren Zielvereinbarungen und die damit verbundenen Implikationen zu groß, um sie mit den kurzfristigen Taktiken und langfristigen Strategien des Unternehmens zu vereinbaren. Incentives, die an Ziele gebunden sind, sind eine geladene Waffe, die sich das Unternehmen an den eigenen Kopf hält.
Real Change
Echte Business Agility wird dadurch ermöglicht, dass das gesamte Unternehmen, von Unternehmensführung über das mittlere Management bis zur Operative, die Implikationen trägt. Es gibt eine Reihe von unangenehmen Wahrheiten:
Wahrheit 1: Ein Unternehmen mit einem Betriebsrat kann nicht die Geschwindigkeit erreichen, die in disruptiven globalen Märkten notwendig ist, um mit Startups mithalten zu können.
Wahrheit 2: Das mittlere Management wird seine Daseinsberechtigung und Macht verteidigen.
Wahrheit 3: Eine bestehende Unternehmenskultur ist ein Immunsystem, das Change-Viren bekämpft.
Wahrheit 4: Change ist notwendig geworden, und man kann sich nicht mehr auf seine Historie verlassen.
Licht am Ende des Tunnels
Werden Consultants in ein Unternehmen geholt, stehen sie vor der unlösbaren Aufgabe, die Organisation zu verändern. Aber die Organisation und ihre Kultur sind miteinander verflochten und lassen sich nicht trennen. Konzernkulturen sind über Jahre organisch gewachsen und lassen sich schwer zu Papier bringen und analysieren. Jedes Unternehmen hat seine eigene Kultur, und das ist auch gut so. Sie sind für sich genommen auch nicht schlecht, denn sie erfüllen das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit.
Eine Kultur möchte erhalten werden, denn jede Änderung an diesem Sicherheitsnetz birgt Risiken. Daher überwiegt das Streben nach der Bewahrung des Status Quos dem Wunsch nach Erneuerung. Betriebsräte legen viel Wert darauf, dass Unternehmen nicht zu stark und zu schnell verändert werden, da dadurch Menschen auf der Strecke bleiben können. Das ist mittelfristig gut für den Menschen, denn seine Position und Rolle bleiben erhalten und stabil, aber langfristig könnte der Arbeitsplatz dadurch vollständig verloren gehen.
Effzienz – also Output durch Zeit – lässt sich vorhersagen. Es liegt also nahe, dass Effzienz im Fokus von Managern steht, obwohl Effektivität – also Wert durch Zeit – ein erstrebenswertes Ziel ist. Effektivität variiert und ist schwer zu prognostizieren, da der Markt den Wert definiert und jederzeit neu definieren kann. Dagegen lässt sich Effzienz auch einfordern und belohnen. So entstehen Incentive-Pläne und somit steuern Zahlen das Unternehmen. Diese Pläne sind mittelfristiger Natur und verhindern, dass die taktischen Ziele eines Unternehmens kurzfristig geändert werden können.
Trotz vieler Widrigkeiten gibt es eine erfolgversprechende Strategie, um Licht am Ende des Tunnels unangenehmer Wahrheiten zu sehen: eine Strategie, um der Dyade des Stillstands und der„frühstückenden“ Unternehmenskultur zu entkommen, ohne dabei den Survivorship Bias zu vernachlässigen.
Diese Strategie wurde durch die Lean-Startup-Bewegung stark, und sie klingt fundamental konträr zu vielen etablierten Management-Praktiken. Dennoch hat sie sich bewährt und ist die Basis für viele Gründerzentren im Silicon Valley, aber auch in Deutschland. Darüber hinaus wird diese Strategie auch immer häufiger von Konzernen verfolgt.
Eine vermeintlich disruptive Idee, neben anderen innovativen Ideen, wird dabei jeweils in kleine autonome Einheiten, also Startups mit flacher Hierarchie, ausgelagert oder ausgegründet. Die Betonung liegt auf autonom und dem Plural von Startup. Startups werden dabei explizit nicht mit Ressourcen wie einer Kriegskasse ausgestattet, denn Ressourcenknappheit erzeugt die Not zur Erfindung. Eine Not, die vielmehr als Kraft verstanden werden kann, aus der Kreativität, Lösungsorientierung und der Zwang zur Elimination von jeglichem Overhead erwächst. In dieser Disruptionslotterie brauchen wir mehr als ein Los, und jedes Los muss unabhängig von seinem Mutterkonzern Fehler machen dürfen, die durch Regularien und Gremien, Kultur, mittlerem Management und Betriebsrat sonst kategorisch ausgeschlossen werden. In der Lotterie muss nicht jedes Los ein Gewinn sein. Eines von vielen reicht vollkommen.
Übrigens: Dieser Blog Post erschien ursprünglich in der Spezialausgabe „Digitalisierung“ des codecentric Softwerker-Magazins. Warum ein ganzes Heft zum Thema Digitalisierung? Weil der Umstand, dass die Digitalisierung unsere Wirtschaft in vielen Bereichen verändert kein Märchen, nicht nur „the next big thing“ und kein leeres Buzzword Bingo darstellt.
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von Alexander Rose
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Blog-Autor*in
Alexander Rose
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